Kapellmeisterin statt Generalmusikdirektorin
Zur aktuellen Situation von Dirigentinnen im klassischen Musikbetrieb

Der vorliegende Reader dokumentiert eine bisher nicht bekannte Fülle von künstlerisch hoch qualifizierten Dirigentinnen im Bereich des Orchester- und Bühnenrepertoires. Er ist das Ergebnis einer systematisch angelegten Recherche nach den derzeit in Europa praktizierenden Orchesterdirigentinnen. Das Resultat dieser Recherche übertraf sämtliche Erwartungen.
Bis dato gab es keine wissenschaftliche oder überhaupt systematisch durchgeführte Studie zum Thema und es lag auch keinerlei statistisch zuverlässig aufbereitetes Datenmaterial vor. So mussten sich die anfänglichen Arbeiten auf Insiderkenntnisse und bisher verstreut gesammelte Materialien stützen. Gesucht wurde nach Dirigentinnen mit Erfahrungen im Orchester- und Bühnendirigat. Selbst die optimistischten Schätzungen hatten nicht mit einer solch überwältigenden Resonanz gerechnet. Trotz klarer Beschränkungen – Nachwuchsdirigentinnen nur bei dem Ziel einer professionellen Laufbahn, das nachgewiesen und praktisch belegt sein musste sowie keine Künstlerinnen aus dem Amateurbereich, keine Kirchenmusikerinnen, keine reinen Chordirigentinnen oder ausschließlich im Blasorchester-Bereich Tätigen – war schließlich mit weit mehr als 200 Namen zu arbeiten. Nach jetzigem Kenntnisstand sind dies längst nicht alle in Europa tätigen Maestras. Im Rahmen einer aus Aktualitätsgründen sehr knappen Zeitperspektive war es nicht möglich, sämtliche Dirigentinnen einzubeziehen, auf die die Auswahlkriterien zugetroffen wären. Doch selbst mit Blick auf den ständigen Zuwachs an Informationen ist es hier gelungen, eine repräsentative Zahl zu vereinen. In diesem Reader werden nun mehr als 90 Dirigentinnen verschiedener Generationen und professioneller Stadien mit Informationen zu Ausbildung, Berufspraxis, Repertoire-Schwerpunkten, Veröffentlichungen sowie ausgewählten Pressestimmen präsentiert. Zur Erleichterung der Kontaktaufnahme sind aktuelle Adressen sowie Informationen zu Web-Präsentationen angegeben. Entsprechend ihrer beruflichen Realität wurden die Künstlerinnen nicht in nationale Gruppen eingeteilt. Grundsätzlich gilt für alle, dass sie international tätig sind – oder dies anstreben. Für diejenigen Nutzerinnen und Nutzer, die länderbezogen nach Dirigentinnen suchen, wurde ein entsprechendes Register am Ende des Readers beigefügt.

Wer aufmerksam liest, wird feststellen, dass es qualifizierte Künstlerinnen in praktisch allen Altersgruppen gibt. Ein Schwerpunkt auf dem künstlerischen Nachwuchs ist dabei unverkennbar. In den letzten Jahren wählen immer mehr Frauen das Orchesterleitungsfach und – wie die hier beschriebenen Künstlerinnen zum Teil eindrucksvoll belegen – mit wachsendem Erfolg und Preisen bei Wettbewerben und internationalen Kursen. Gleichzeitig zeichnet sich deutlich ab, dass die gezielte Förderung des Nachwuchses – sei es durch das Dirigentenforum des Deutschen Musikrates, sei es durch das bundesweit einmalige Förderprojekt Dirigentinnenforum der Orchesterakademie der Bergischen Symphoniker in Nordrhein-Westfalen – Früchte trägt. Für die künstlerische Ausbildung wird zunehmend gesorgt. Dass diesem großen Potential an musikalischer Kreativität auch die Möglichkeit gegeben wird, sich zu professionalisieren und sich im Berufsleben selbstverständlich zu integrieren, dafür tragen Intendanten, Veranstalter und Orchesterleitungen Verantwortung. Der Reader belegt, dass für praktisch jeden musikalischen Zweck qualifizierte Dirigentinnen zur Verfügung stehen – ob Stadttheater-Repertoire, ob Operette, Musical, Oper oder avanciert-experimentelle Performance. Dies gilt insbesondere für den Bereich der zeitgenössischen Musik.

Als Pilotprojekt soll diese Publikation einerseits ein wesentliches Informationsdefizit verringern. Sie ordnet sich damit in den aktuellen Rahmen der Diskussionen um das Gender Mainstreaming Prinzip ein. Andererseits ist eines ihrer Ergebnisse, dass umfassendere Studien erforderlich sind, um dem Publikum und der musikalischen Fachwelt eine wesentliche Dimension des Musikbetriebs zu erschließen und letztlich die Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern herzustellen. Denn eines möchte jede dieser Dirigentinnen: In erster Linie in ihrem künstlerischen Profil wahrgenommen und diskutiert werden. So lange sie als Exotinnen behandelt werden, bleibt dies ein kaum erfüllbarer Wunsch. Um dieser Tatsache wirksam abzuhelfen, wird es ohne weitere Förderung nicht gehen. Das künstlerische Potential dafür ist vorhanden.

Noch 1998 antwortete eine junge Dirigentin auf die Frage einer Lübecker Zeitung, wie sie ihre berufliche Perspektive nach dem Studium sehe, sie „versuche eine Anfängerstelle als Korrepetitorin zu bekommen. Später wolle sie einmal zweite oder erste Kapellmeisterin werden, doch dafür müsse man als Frau besser sein als ein Mann”. Kapellmeisterin ist das Ziel, nicht Generalmusikdirektorin (GMD). Besagte Dirigentin hat heute ihre erste feste Verpflichtung an einem norddeutschen Theater und es ist ihr zu wünschen, dass ihre Karriere nicht bei dem seinerzeit angegebenen Ziel stehen bleibt. Dass sie trotz ihres künstlerischen Selbstbewusstseins die exponierteste aller Stellen, das Pult der GMD, nicht anstrebte, ist sicherlich auch auf den Mangel an Vorbildern zurückzuführen.
Tatsächlich hat sich erst in den zurückliegenden zwei Jahren die Frauenquote bei der Besetzung dieses renommiertesten Postens im – staatlich hoch subventionierten – Musiktheater erheblich gesteigert. Jahrelang hatte nur eine einzige Dirigentin die begehrte Stellung inne: Romely Pfund bei den Bergischen Symphonikern. Außerhalb Remscheids gab es keine weibliche GMD, bis in der Saison 2001/02 Catherine Rückwardt, vormalige Frankfurter Kapellmeisterin, am Mainzer Staatstheater engagiert wurde. Im Sommer 2002 schließlich wurde bekannt, dass ab der Spielzeit 2003 die amerikanische Dirigentin Karen Kamensek am Freiburger Theater neue GMD wird. Damit gibt es in Deutschland drei Frauen auf dieser Position. Das ist gewiss eine ermutigende Entwicklung, doch nach wie vor besteht kein Anlass zum Jubeln. Ähnlich verhält es sich im Lehrkörper der Hochschulen. Im Bereich des Orchesterdirigats haben Frauen in der regulären Ausbildung Seltenheitswert. Alicja Mounk – ehemals GMD am Ulmer Theater –, die am Karlsruher Institut für Musiktheater unterrichtet, ist auf diesem Gebiet eine der wenigen hervorragenden Berufspraktikerinnen. Weder in der öffentlichen Wahrnehmung noch in der im engeren Sinne fachspezifischen Musikwelt sind Dirigentinnen Normalität. Das hat zur Folge, dass so gut wie jede als Einzelerscheinung gesehen wird. Die wenigen international bekannten Dirigentinnen wie Simone Young, Marin Alsop, Eve Queler oder Julia Jones werden immer wieder und immer noch als Ausnahmefälle beschrieben und in der Presse für gewöhnlich auch so kommentiert. Doch dies trifft nicht mehr den tatsächlichen Stand der Dinge. Dieser Reader soll in erster Linie dazu beitragen, die entsprechend Verantwortlichen in die Pflicht zu nehmen, Frauen am Pult zu verpflichten. „Wir würden ja gerne, aber es gibt Keine“ kann nun kein Argument mehr sein.

Wir bedanken uns herzlich bei dem Ministerium für Städtebau und Wohnen, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen und dem Bundesminsterium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend für die Unterstützung sowie bei dem Förderverein Archiv Frau und Musik e.V., ohne dessen Zuschuss die Drucklegung nicht möglich gewesen wäre.

Renate Brosch, Renate Matthei, Dietburg Spohr
Vorstand Archiv Frau und Musik, Internationaler Arbeitskreis Frau und Musik e.V.

Grußwort von Dr. Christine Bergmann
Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Nur wenig hat sich in den vergangenen 25 Jahren bewegt im Hinblick auf die Lebens- und Erwerbssituation von Dirigentinnen. Während Künstlerinnen in anderen Bereichen der Musik stärker in Erscheinung treten, in der Musikliteratur mehr Biographien von Musikerinnen und Werkverzeichnisse von Komponistinnen veröffentlicht und Notenmaterial gesammelt wurde, ist die Situation der Dirigentinnen unverändert schlecht.

Dies ist mehr als unbefriedigend, insbesondere vor dem Hintergrund, dass 54 % der Studierenden an Musikhochschulen und immerhin 25 % der Studierenden im Bereich Dirigieren Frauen sind. Das Vorurteil, Dirigieren sei Männersache, hält sich offensichtlich sehr hartnäckig.

Um diesem Vorurteil entgegen zu wirken, hat mein Haus gern den vorliegenden europäischen Dirigentinnen-Reader gefördert. Der musikalischen Öffentlichkeit wie auch konkreten Veranstaltern soll damit ein kompetenter Führer, der auch ins Internet eingestellt wurde, an die Hand gegeben werden, um sie europaweit bei der Suche und Auswahl von Dirigentinnen zu unterstützen.

Ich wünsche mir, dass auf diese Weise ein Beitrag dazu geleistet werden kann, Dirigentinnen und ihre Leistungen stärker ins Blickfeld der Öffentlichkeit zu rücken.

Grußwort von Dr. Michael Vesper
Minister für Städtebau und Wohnen, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen

Es ist heute eine Selbstverständlichkeit, dass Musikerinnen in erstklassigen Orchestern aktiv sind. Auch der Beruf der Komponistin hat, nicht zuletzt durch erhebliche öffentliche Unterstützung, einen Wandel durchlebt. Das Land Nordrhein-Westfalen hat dafür mit seiner konsequenten Förderung den Weg bereitet.

Am Dirigierpult aber sind Frauen nach wie vor stark unterrepräsentiert – auch, wenn es hochkarätige Ausnahmen gibt wie die Generalmusikdirektorin der Bergischen Symphoniker Romely Pfund. Dennoch gelten sie weithin als Exotinnen, ihr Anteil wird auf zwei bis drei Prozent geschätzt. Im täglichen Betrieb erleben sie sich oft als Einzelkämpferinnen. So verwundert es kaum, dass Veranstalter und Intendanten nur selten daran denken, Frauen dauerhaft als Dirigentinnen unter Vertrag zu nehmen. Zwar gibt es in Nordrhein-Westfalen mit dem Dirigentinnenstipendium der Bergischen Symphoniker ein bundesweit einzigartiges Förderprojekt, und an Nachwuchs mangelt es nicht. Profilierte Vorbilder in Spitzenpositionen jedoch sind nur vereinzelt zu finden.

Dem soll nun mit einem weiteren Projekt abgeholfen werden. Das Kulturministerium NRW und das Bundesfrauenministerium haben das Archiv Frau und Musik in Frankfurt beauftragt, einen Dirigentinnenreader zu erstellen: Eine systematisch angelegte Recherche nach Orchester- und Musiktheaterdirigentinnen.

Dirigentinnen und Dirigenten sind künstlerische Kosmopoliten. Herkunft und Nationalität spielen im Alltag von saisonalen Engagements und Festivalbetrieb nur eine Nebenrolle. Deshalb wurde die Zusammenstellung international angelegt. Der Reader informiert umfassend über die europäischen Dirigentinnen. Er ist als Buch und im Internet verfügbar. Nationale und internationale Veranstalter und Orchester erhalten damit eine zuverlässige Übersicht, in der auch besondere Interessen und Vorlieben erfasst sind.

Die Erwartungen, die mit diesem Projekt verbunden waren, wurden durch die Ergebnisse der Recherche übertroffen. Es gibt eine große Anzahl von Dirigentinnen auf allen Stufen der Karriereleiter. Dabei decken die Künstlerinnen die ganze Bandbreite der Musikgeschichte von Alter Musik über das traditionelle Orchester-Repertoire bis zur zeitgenössischen Avantgarde vollständig ab. Um so verwunderlicher ist, dass sie im Bewusstsein der musikalischen Öffentlichkeit so wenig bekannt sind.

Mit dem vorliegenden Reader ist der erste, dringend notwendige Schritt getan, das schöpferische Potenzial von Dirigentinnen künftig stärker zu erschließen. Nun liegt es in der Hand der Orchestervorstände, Intendanten und Musikmanager, mit den wertvollen Informationen umzugehen. Ich appelliere dringend an sie, den Reader zu nutzen! Es ist Sache der Verantwortlichen in Kultur- und Musikbetrieb, gut ausgebildeten und künstlerisch kompetenten Dirigentinnen die Chancen zur beruflichen Profilierung zu eröffnen. Nicht nur die Künstlerinnen selbst werden davon profitieren, sondern auch das Musikleben und sein Publikum.

Dem Dirigentinnenreader kommt eine Pilotfunktion zu. Er ist eines der Förderprojekte des Landes NRW, die dem Ziel verpflichtet sind, musikschaffenden Frauen endlich die gleiche Anerkennung zu verschaffen, die für die Zunft der “Maestros” längst selbstverständlich ist.